Der Kapitalismus ist ein System, in dem nicht die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen, sondern der Profit. Das liegt daran, dass die Dinge als Waren in getrennter Privatproduktion hergestellt werden, die Produzent*innen daher auf dem Markt in Konkurrenz zueinander stehen. Die Unternehmen müssen Profit machen, damit sie diesen als Kapital wieder einsetzen können, um ihre Produktion zu verbessern und die Konkurrenz auszustechen.
Profit wird über die Ausbeutung der Arbeitskraft geschaffen. Dabei ist es relativ egal, ob du in der Fabrik, in einem Büro oder bei einem Lieferservice arbeitest. Wenn du dich in einem Lohnarbeitsverhältnis befindest, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass du mit deiner Arbeit den Profit eines Unternehmens schaffst.

Doch nicht alles läuft im Kapitalismus über diese Form der Arbeit: Damit der Kapitalismus funktionieren kann, braucht er gesellschaftliche Bereiche (Sphären), in denen seine Voraussetzungen (wie die Arbeitsfähigkeit der Arbeiter*innen) überhaupt erst hergestellt werden. So ein Bereich ist die Sphäre der Reproduktion – also das Kümmern um Kinder, Haushaltsarbeit und emotionale Unterstützung. Diese Tätigkeiten werden nach wie vor meist von Frauen geleistet und diese Sphäre und dazugehörige Emotionen als weiblich gedacht. Währenddessen wird die Sphäre des Marktes, in der das einzelne Individuum stark sein und sich durchsetzen muss, als männlich gedacht. Dass diese Aufteilung in Sphären so vergeschlechtlicht wurde, ist nicht selbstverständlich, sondern musste gewaltsam durchgesetzt werden. Historische Analysen deuten auch daraufhin, dass sich das Denken in zwei Geschlechtern, die angeblich fundamental voneinander verschieden und durch die Heteronormativität aufeinander bezogen sind, erst mit dieser Sphärentrennung und mit dem Kapitalismus durchgesetzt hat. Durch Kolonialisierung wurde diese Zweigeschlechtlichkeit dann in alle Welt importiert und Menschen aufgezwungen, die vorher z. T. mehr Geschlechter kannten.
Mit dem Kapitalismus begann eine umfassende Disziplinierung von Menschen, damit ihre Arbeitskraft möglichst effizient ausgebeutet werden konnte. Diese Disziplinierung und Normierung betraf auch die Sexualität und musste auch in den Fabriken erst einmal durchgesetzt werden. Mit dieser Durchsetzung kam eine Verschärfung der Heteronorm.
Generell legt der Kapitalismus eine Kategorisierung von Menschen nahe: Menschen im Schubladen lassen sich besser verwerten, sowohl was den Markt an Arbeitskräften angeht als auch den Konsumgütermarkt.

Der Kapitalismus hat heute im globalen Norden (Mittel- und Westeuropa sowie Nordamerika) seine Erscheinung im Vergleich zu seiner Anfangsphase verändert: Menschen arbeiten immer mehr in Dienstleistungsbetrieben statt in Fabriken. Flexibilität und ein gewisses Maß an Selbstorganisation sind nun verlangt, nicht mehr nur stumpfes Ausführen von Fließbandtätigkeiten. Die Vielfalt von Lebensentwürfen ist verwertbar geworden. Unternehmen haben die schwule Subkultur als Marktlücke entdeckt – und somit wird auch eine zunehmende Gleichstellung von LGBTIQ*s erleichtert.
Diese Gleichberechtigung ist jedoch sehr beschränkt, denn zum einen profitieren von ihr vor allem reichere LGBTIQ*s; zum anderen ist sie immer noch von der Heteronormativität bestimmt: Die Emanzipationsstrategien, die sich dieser am weitesten angleichen, wie etwa die „Ehe für alle”, sind am erfolgreichsten und die zunehmende Sichtbarkeit von Trans* Personen gilt vor allem für Personen, die herrschenden Schönheitsnormen entsprechen. Darüber hinaus gelten diese Veränderungen innerhalb des Kapitalismus eben vor allem für den globalen Norden, während im globalen Süden (Lateinamerika, Afrika, große Teile Asiens) die Produktion nach wie vor oder sogar noch stärker in Fabriken organisiert wird (eben weil diese von Europa aus dorthin „outgesourct“ wurden) – mit all den Disziplinierungen von Geschlecht und Sexualität, die damit einhergehen.

Es sind zum einen ärmere Queers (z.B. Obdachlose) und zum anderen Queers im globalen Süden, die von unseren Emanzipationserfolgen wenig profitieren. An LGBTIQ*s aus dem globalen Süden wird zwar manchmal gedacht, etwa wenn auf die Strafverfolgung von Homosexuellen in immer noch viel zu vielen Ländern hingewiesen wird. Was dabei aber oft vergessen wird, ist dass diese Gesetze von den Kolonialmächten eingeführt worden sind und dass die Lebenssituation der Menschen im globalen Süden vor allem deshalb so miserabel ist, weil sie den Wohlstand des globalen Nordens unter erbärmlichen Bedingungen herstellen, weil ihre Arbeitskraft um ein vielfaches billiger ist als die im globalen Norden.
Wenn Leute aus solchen Bedingungen fliehen und wenn sie es überhaupt bis nach Europa schaffen, dann müssen sie immer noch fürchten abgeschoben zu werden, in die Länder, die jetzt als sichere Herkunftsstaaten gelten, auch wenn dort Homosexualität verfolgt wird.

Queere Befreiung sollte all diese Perspektiven mitdenken. Es kann nicht darum gehen, es sich in der Festung Europa bequem zu machen und sich in den Kapitalismus zu integrieren oder gar mit nationalistischen Kräften zu kuscheln, um gemeinsame Front gegen das Feindbild der Muslime zu machen. Queere Befreiung sollte stattdessen nach dem guten Leben für alle streben, nach einem solidarischen Miteinander, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen.

Wenn wir den Begriff Queer nicht nur als einen Sammelbegriff für LGBTIAQ* sehen, sondern in ihm auch ein Begehren erkennen, Binaritäten zu sprengen, Herrschaftssysteme zu subvertieren und die Kategorisierung von Menschen zu unterlaufen, dann bedeutet queere Befreiung zudem vor allem ein Einreißen von Grenzen.

Queere Befreiung heißt, die Grenzen einzureißen, die zwischen den Identitäten verlaufen. Grenzen, die Menschen in feste Geschlechterkategorien packen. Grenzen, die durch alltägliche Blicke gezogen werden, aber auch durch Gesetzestexte (die den Wechsel des Geschlechtseintrags erschweren). Queere Befreiung heißt, dass alle so sein können sollen, wie sie wollen. Dass Menschen ohne Angst verschieden sein können.

Queere Befreiung heißt, die Grenzen einzureißen, die um die Nationalstaaten und vor allem um die Festung Europa verlaufen. Grenzen, die für tausende Tote im Mittelmeer verantwortlich sind. Queere Befreiung heißt, dass alle dorthin gehen oder dort bleiben können, wo sie wollen.
Queere Befreiung heißt, die Grenzen einzureißen, die um das Privateigentum gezogen werden, welches im Kapitalismus das heiligste aller Dinge ist. Grenzen, die dafür sorgen, dass Häuser leerstehen während Leute ohne Wohnung sind, die dafür sorgen, dass Essen weggeschmissen wird während andere Hunger leiden. Queere Befreiung heißt, stattdessen gemeinsam für Bedürfnisbefriedigung zu produzieren statt für den Profit, im solidarischen Miteinander.

Queere Befreiung heißt, all diese Grenzen einzureißen und für ein sicheres, freies, gutes, buntes und perverses Leben zu kämpfen, das so viel schöner sein könnte als ein in Regenbogen-Farben angemalter Kapitalismus!